STIER Sicher, singende Mimen gibt es mehr als irgendwer braucht. Aber Hans-Martin Stier war mit seiner "Törner Stier Crew" schon einer der heissesten Bühnengigs der Republik, lange bevor er als Schauspieler durchgestartet ist. Unter anderem hat die Crew den Nachwuchspreis beim Wettbewerb der "Deutschen Phonoakademie" (heute "Echo") abgeräumt und war eine der wenigen deutschen Bands, die beim ehrwürdigen WDR-Rockpalast aufspielen durften. Als Schauspieler kennt man den Charakterkopf aus unzähligen Filmen wie "Der Himmel über Berlin", "Fickende Fische" oder internationalen Kinoproduktionen wie "Tristan und Isolde" (Regie Kevin Reynolds). Auf dem Bildschirm reicht sein Spektrum von ernst bis albern, von "Ein Fall für Zwei" bis "Hausmeister Krause", wo er als Dackelclub-Präsident Göbel dem deutschen Vereinswahnsinn ein Gesicht gibt. Und auch in den nächsten Monaten wird er – und das gleich in mehreren Produktionen - auf der Leinwand zu sehen sein: In "Ohne Gnade" und "KingPing". Trotz seiner vielfältigen Schauspiel-Aktivitäten – momentan ist er auch noch auf der Bühne des Musical Dome Cologne in "My Fair Lady" zu sehen und zu hören – spielte und spielt die Musik mehr als nur eine Nebenrolle in Stiers Leben. Auch wenn die "Törner Stier Crew" 1982 offiziell aufgelöst wurde, hat man sich dennoch in den vergangenen Jahren immer wieder zu sporadischen Live-Auftritten getroffen (u.a. "Wacken 2011"). Da war es dann nur noch ein kleiner Schritt, bis man wieder anfing, neue Songs zu schreiben. Und irgendwann, viel schneller als gedacht, war ein komplettes Album im Kasten: "Geisterschiff". "Viel reden tun wir nicht. Denn es gibt Arbeit. Ob’s lohnt, das weiss man nicht." ("Jeden Tag hinaus") Wie damals sind Bassist Walt(er) Stoever, sowie Keyboarder Charlie Steinberg wieder mit an Bord. Auch wenn das Schiff nun STIER heisst. Dabei ist Tastenmann Charlie Steinberg auch jenseits von Bühne und Probenraum als Meister der programmierbaren Möglichkeiten eine der treibenden Kreativkräfte der Band. Wen wundert’s, immerhin ist Steinberg als Entwickler der Musiksoftware "Cubase", "VST" und "Nuendo" ein internationales Markenzeichen im Musikbusiness (Grammy-Nominierung!). Die jüngsten Mitglieder im Stier-Rudel sind Schlagzeuger Tom Günzel und Gitarrist Peter Koller. Sie sind für die rockigen Akzente zuständig. Herr Koller ist nicht nur neue Triebkraft am 6-saitigen Instrumentarium, sondern pflichtet auch die meisten Ton-und Text-Werke bei. Wenn er mit einem Akkordteppich die Basis für die Songs legt, um uns – nicht unbedingt wenn man damit rechnet – mit einem Hammerriff die volle "Breitsaite" zu geben, bleibt kein Auge trocken. Teilweise so fett, dass die Jungs von Rammstein feuchte Augen kriegen. Und dass H.-M. Stier nicht nur Sänger und Schauspieler ist, sondern auch auf eine Vergangenheit als Seemann zurückschauen kann, hat sich spürbar auf die Musik übertragen, denn dieses Kapitel seiner Biographie hat seinen Lebenshorizont entscheidend mitgeprägt. Und dass es mehr als eine schicke Attitüde ist, kann man in jedem Song spüren. Er scheint alles, wovon er singt, am eigenen Leib erlebt zu haben. Jedes Wort klingt glaubwürdig wie das Schluss-Plädoyer eines Kinoanwalts. Dabei nutzt er seinen gewaltigen "Klangkörper" mit all seinen Möglichkeiten. Mal singt er mit dröhnendem Bass, seufzt mit asthmatischer Schwermut oder schnurrt wie ein Kater vor dem Mausloch, um wenig später mit einer Stimme wie eine Sturmflut die Emotions-Wogen aufzupeitschen. Aber auch instrumental spielt jeder Song mit der kompletten Bandbreite, sowohl menschlicher als auch musikalischer Emotionen. Von hart bis zart, von aufwühlend bis anheimelnd. Und genau darin liegt auch die Stärke der Band, die aus der Fülle ihrer Erfahrungen schöpfen kann. Das Quintett bedient musikalisch sämtliche Schubladen, die die Rockkonsole zu bieten hat: Stampfenden Hardrock, bleischwere melancholische Balladen, brettharten Gothik-Metal, mitreissenden Uptempo-Rock. Garniert durch unerwartete Stil-Zitate, die dem Musikfreund ein Grinsen ins Gesicht meisselt. "Geisterschiff" ist ein sowohl musikalisch, als auch lyrisch ein äusserst abwechslungsreiches Album, das ohne Umwege gleichermassen ins Tanzbein und Herz, aber auch ins Hirn einschlägt. Und trotzdem aus einem Guss ist; eine kompakte Einheit, welche die komplette Bandbreite moderner Rock-Musik bietet, die sowohl junge als auch ältere Fans anspricht. STIER schafft eine Allianz aus alten Tugenden und frischem Wind. Echte Rockmusik, auf der Höhe der Zeit. Jeder Song deckt sowohl auf der musikalischen, als auch der lyrischen Seite eine Bandbreite, dass Herz, Hirn und Tanzbein gleichermassen in Wallung geraten. Dabei wechseln die Herren selbst innerhalb der Stücke mühelos zwischen Stimmungen und Stilen, von deren Existenz noch nicht alle Musiker erfahren haben. Hans-Martin Stier`s Stimme entführt uns in die Untiefen seiner Seele. Es wird geflüstert und gebrüllt. Er singt von Fernweh, teuer erkauften Freiheiten und Beziehungen – natürlich nicht den einfachen - erweist der Musik seine Reminiszenz und macht seinem Haustier eine (nicht humorfreie) Liebeserklärung. "Ich hab dich lieb. Soooo liieeb!" (Rauhaar) Überhaupt scheint das Spiel mit den ironischen Grenzverschiebungen Teil des Bandkonzepts zu sein. Wobei trotz des stilistischen Nonkonformismus (oder: Konfessionslosigkeit) hier keine Beliebigkeit herrscht. Im Gegenteil. STIER hat seine eigene musikalische Handschrift gefunden. Und das merkt man daran, dass "Geisterschiff" zu hören, wie ein Abend mit einem guten Freund ist. Man spürt die Nähe und entdeckt ständig neue interessante Aspekte. Peter Dickmeyer Freier Redakteur WDR und andere